Freitag, 7. September 2012

Geschichten eines Landtierarztes - Nicki Schirm, Tierarzt der VOX Fernsehserie erzählt


„Das ist Arielle“, sagt Tierarzt Nicki Schirm und deutet auf ein Schwein kapitaler Größe, das so gar nicht zum Bild einer grazilen Meerjungfrau passen will. Daneben Maggi die Wildsau, die als Frischling von Arielle quasi adoptiert wurde, sich nun das Gehege mit ihr teilt  und entspannt in ihrer Suhle liegt.  Dann stellt er die weiteren Bewohner des Hanauer Tierrefugiums vor, einer Einrichtung die verstoßene und ausgesetzte Tiere aufnimmt. Schirm kennt jedes Tier bei Namen. Es ist ein friedliches Zusammenleben von Ziege, Schwein und  Schaf, die alle das gleiche Schicksal teilen. „Was macht unser Schätzchen?“, fragt er schließlich.  Mit Schätzchen ist ein Schaf gemeint, das eigentlich „Flöckchen“ gerufen wird, und das an der Sterngucker Krankheit leidet. Eine Vitamin B- Mangelerkrankung die zwar tödlich enden kann, aber mit Medikamenten heilbar ist. Nicki Schirm ist Landtierarzt mit Praxis im hessischen Langenselbold und kümmert sich überwiegend um Nutztiere, wie Schweine, Rinder, Schafe und Ziegen. Seit er mit dem Fernsehsender VOX über 120 Sendungen in der Dokusoap „Menschen, Tiere und Doktoren“ drehte, zählt er zu den bekanntesten Tierärzten in Deutschland.  Jetzt hat er ein Buch geschrieben.

 
 „Ein Doktor und ´ne Menge Vieh“, so der Titel des Werkes, das mehr ist als nur eine Dokumentation von Praxisfällen.

Seit 26 Jahren betreibt Schirm, der eigentlich von der schwäbischen Alb stammt, eine Landtierpraxis im Hessischen. „Als ich anfing gab es noch viele Bauern im Ort und näherer Umgebung.“ Jetzt fährt Schirm bis nach Bayern oder ist im ganzen Landkreis unterwegs. Das Sterben der Höfe hat er aus nächster Perspektive miterlebt. Und auch die Auswirkungen der sogenannten Herodesprämie. Eine Sonderzahlung  für das frühzeitige Schlachten von Kälbern unter 20 Tagen. Weil diese aber in Deutschland nicht zulässig war, schafften Bauern ihre Jungtiere ins benachbarte Ausland. Rund 250 DM zahlte die EU  Ende der 1990er Jahre pro Kalb. Allein aus Deutschland wurden rund 120000 Tiere so zu Tiermehl, Hunde – oder Katzenfutter verarbeitet. Ein Umgang mit Tieren, der für den Tierarzt ein Alptraum ist. Doch nicht nur EU Verordnungen setzen dem Berufstand zu. Großbetriebe, die zur industriellen Fleischproduktion übergangen sind und Tierärzte nur noch als Lieferanten von Arzneimitteln betrachten, wiedersprechen dem Verständnis von gesundem Aufwachsen und Wohlergehen der Tierbestände. Entwicklungen die für einen Mann, der mit Leib und Seele für die Tiere da ist, schwer zu ertragen sind. Landtierpraxen wie Schirm sie betreibt, sind die letzten einer vom Aussterben bedrohten  Art und werden oft als Feuerwehrtierärzte gesehen.  Das Telefon ist immer dabei. „Ich bin 24 Stunden rund um die Uhr im Dienst“, sagt er. Bei einem nächtlichen Anruf bin ich beim dritten Klingeln gesprächsfähig“. Dann heißt es raus. Unfälle mit Tiertransportern auf der Autobahn gehören genauso zum Alltag wie das Bergen von verbrannten Tieren, das Einfangen eines entlaufenen Rindes, oder lebensbedrohlichen Koliken.

Und doch gibt es trotz aller Auswüchse und Katastrophen noch etwas anderes, das sich schwer beschreiben lässt. Dieses Andere  sind Geschichten vom Wunder des Lebens. Geschichten vom Laufen auf Wolken, und  dem  Eintreffen des Unwahrscheinlichen.

An einem  Nachmittag wird der Tierarzt zu einem Kälbchen gerufen, das nahezu leblos auf der Weide liegt. Die aufgeregte Mutterkuh daneben. Um nicht von der Mutter attackiert zu werden, schließlich wollen diese ihre Nachkommen schützen, zeigt Schirm ihr die Instrumente. Die Kuh betrachtet und beschnuppert diese und macht schließlich den Weg frei für die Behandlung. Nachdem das im Sterben liegende Kalb gerettet werden konnte, trotten beide von dannen. Und dann geschieht das Unglaubliche. Sie kommen zurück und schauen den Tierarzt bedeutungsvoll an. „Die hat sich doch eben bei dir bedankt“, meint der Kameramann erstaunt.

Nur eine Geschichte von vielen , aber eine die ermutigt Tiere als Persönlichkeiten zu sehen. „Wer Nutztiere nur als Produktionsfaktor betrachtet, hat es auch schwerer mit der Tiergesundheit“, sagt Schirm. So gesehen sind die „Geschichten eines Landtierarztes“, auch ein Nachruf auf jene Bauern, die sich um artgerechte Haltung bemühen und Bestätigung für Jene die sagen“: Tiere sind auch nur Menschen“.

 „Wenn unsere Tiere auf der Weide  liegend wiederkäuen verströmen sie eine Ruhe und  Zufriedenheit die ich bei Menschen  meist vermisse“, sagt Schirm.

Die Lesung zur Buchpremiere war schon kurz nach Bekanntgabe ausverkauft. Der Erlös geht, wie könnte es anders sein, an das Hanauer Tierrefugium.

„Ein Doktor und ´ne Menge Vieh“ ist im Rowohlt Verlag erschienen. 298 Seiten zum Preis von 8,99 Euro (ISBN 978 3 499 62953 2).

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