Die Stadt Addis Abeba gibt es eigentlich erst seit 120 Jahren. Kaiser
Menelik schlug hier einst sein Lager auf. Noch in den 1950er Jahren galt der
Ort als grüne Gartenstadt mit zahlreichen Bungalows. Inzwischen ist Addis
Äthiopiens bedeutendster Industriestandort mit einem rapiden Wachstum. Addis
Abeba ist für viele ein Versprechen auf ein besseres Leben. Vor allem die
verarmte Landbevölkerung zieht es in die Stadt und landet meist in einem Slum.
Wenn Tesfaye Tefera (22) aus der Hütte auf die Straße tritt,
steht er vor dem Abfluss der nahegelegenen Gemeinschaftslatrine. Deren Abwässer
fließen direkt vor ihrer Haustür entlang. „Es stinkt“, sagt Tesfaye, den alle
nur Professor nennen, weil er in der Schule sagte, er wolle Professor werden.
„Damals dachte ich, es sei ein eigener Beruf, den man lernen könne“, lacht er.
Doch Tesfaye ist nicht wählerisch. Er ist in Kirkos geboren, einem Slumviertel
in der Mitte der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Seine Mutter, Mebrat
Gashaw, stammt vom Land. Von dort wollte sie weg. Leben auf dem Land heißt leben ohne Strom und
ohne fließendes Wasser. Maschinen gibt es nicht. Die Felder werden mit der
Hacke bestellt, das Korn mit der Kraft der Ochsen gedroschen. Es ist ein Leben
wie vor 100 Jahren. Als älteste Tochter musste sie sich sowohl um die Felder als auch um den Haushalt und ihre
Geschwister kümmern. „Das war schwer. Zu schwer für eine 17 Jährige“, erinnert
sie sich. Seitdem wohnt sie in einer der zahlreichen Wellblechhütten in Kirkos.
Zehn Quadratmeter für sich, den Sohn und die Tochter, und im kleinen Innenhof
ist Platz für ein paar Hühner. Als ihr Mann, der sich als Tagelöhner auf
Baustellen verdingte, vor acht Jahren starb, wurde das Leben noch ein Stückchen
schwerer. Um sich und die kleine Familie zu ernähren, verkauft Mebrat
selbstgebrautes Bier. So wie Mebrat und Tesfaye leben viele Menschen in Kirkos.
Laut offiziellen Angaben rund 235 Tausend Menschen. Und es werden täglich mehr.
Denn in Äthiopien wird das Land knapp.
Schon jetzt leben auf dem Hochland Familien vom Ertrag eines halben
Hektars. „Da die Familien meist mehrere Kinder haben, bleibt für die Erben
nicht mehr viel übrig“, sagt Yohannes Belay, Berater der Welthungerhilfe am
Horn von Afrika. „Das Land lässt sich nicht mehr teilen“, sagt er. „Die Wälder,
die noch vor rund 100 Jahren die Hälfte des Landes bedeckten, sind
gerodet.“ Als einziger Ausweg erscheint
vielen die Hauptstadt Addis. Die äthiopische Hauptstadt ist wie ein großes
Versprechen auf ein leichteres Leben. Während die Landbevölkerung bei rund 80
Prozent stagniert (laut Angaben der Central Statistic Agency), wächst die
Stadt. 2007 lag die Einwohnerzahl bei 3,5 Millionen Menschen. Mittlerweile
zählt sie rund 7 Millionen. Mit einer Verdopplung wird alle sieben Jahre
gerechnet. Groß und bunt ist die Stadt. Es gibt Strom, glitzernde Fassaden aus
Stahl, Beton und Glas und die Versprechungen der Moderne. Überall wird gebaut.
Neue Viertel entstehen quasi über Nacht. Addis wird Afrikas erste Stadt mit
einem City Train sein. Die Gleise sind verlegt. Die Oberleitungen sind fertig.
Zur Wahl des Premiers am 24. Mai sollen die Züge rollen. 60 Tausend Menschen
können so pro Stunde in die Stadt gebracht werden und die chronisch verstopften
Straßen entlasten. „Neue Blume“ heißt Addis Abeba in der amharischen Landessprache,
und fast scheint es so, als könne das Neue
nicht schnell genug gehen. Erste Anlaufstelle für die vielen Zuwanderer ist Kirkos. Denn in Kirkos ist das Leben noch günstig.
Ein Zimmer kostet hier rund 600 Birr (30 Euro) im Monat, erzählt Tesfaye.
Kleine Geschäfte, Garküchen, Marktstände reihen sich aneinander. Mancher Laden
ist kaum größer als zwei Quadratmeter.
„Wenn wir einkaufen dann hier“. Tesfaye zeigt auf den kleinen Marktstand
von Zenebech Hailemariam (52). Getreide
und Gewürze hat sie im Angebot. Die Waren hat sie sich auf dem Großmarkt
besorgt, mit einem Mikrokredit, den sie pünktlich abbezahlt. „Verkaufen macht
Spaß“, sagt sie und hat auch eine ganz spezielle Idee, um Kunden zum Kauf zu
bewegen. „Ich erzähle, wie toll meine Waren sind, und wer viel kauft, bekommt
von den Gewürzen etwas geschenkt“. Die schwere Zeit, als ihr Mann starb
und sie nicht wusste, wie sie die Kinder
ernähren sollte, liegt hinter ihr. Damals wollten die Kinder nicht in die
Schule gehen, weil sie nichts zu essen hatten“, sagt sie leise. Wer neu in
Kirkos ist fängt meist als Losverkäufer
oder Zigarettenhändler an“, weiß Tesfaye. Die findet man an jeder
Straßenecke. Tesfaye hat Glück und ein Armband mit den Bildnissen der Apostel
um das Handgelenk. Das gibt mir Kraft“, sagt er. Er macht in einem Krankenhaus
eine Ausbildung zum Radiologietechniker. Sein Viertel hat ihn, weil er
Halbwaise ist, für ein Sozialprogramm bei Wabe Children Aid und Training vorgeschlagen,
eine Sozialorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit Jugendlichen
eine Lebensperspektive ohne Hunger zu entwickeln. 40 Tausend Kindern konnte so,
seit Gründung der Organisation 1997, bereits ein besserer Zugang zu Bildung und
Gesundheit ermöglicht werden“, erklärt Mestika Negash von Wabe. „Wir halten hier
im Viertel zusammen“, sagt Tesfaye stolz.
Wenn jemand krank ist, dann bekommt er Besuch von einem Nachbarn. Doch Kirkos ist bedroht und damit auch das gewachsene
Sozialgefüge der hier lebenden Menschen. Zwischen City Train und dem neuen
Hochhaus der Afrikanischen Union gelegen weckt das Gebiet Begehrlichkeiten.
Neuer Wohnraum für das neue Addis soll hier entstehen. Die Bagger haben bereits
mit den Abbrucharbeiten begonnen. Die
bisherigen Bewohner sollen umgesiedelt werden – in Wohnblöcke am Rande
der Stadt. Tausende dieser Neubauten sind zur Zeit am Entstehen. Dafür gibt es günstige Kredite. Die
Gewürzverkäuferin hat bei den Verwandten
um Hilfe nachgefragt. „Das Startkapital ist zusammen“, sagt sie erleichtert.
Doch nicht jeder wird die Raten zahlen können. Auch die Mutter von Tesfaye
hofft auf eine kleine neue Wohnung. Die will sie mit dem Verkauf von Hühnern finanzieren. „Ein
bisschen zu optimistisch?“, fragt Tesfaye mit bangem Blick und gibt sich die
Antwort hierfür selbst: „Manchmal kann Äthiopien wie die Hölle sein.“ Doch der Strom der Zuwanderer vom Land ist
ungebrochen. Täglich zieht es mehr Menschen aus allen Landesteilen in die
Stadt. Arbeit ist schwer zu finden. Die Perspektive, dass man in der
Millionenstadt auch scheitern könnte, schreckt die Zuwanderer nicht. „Alles ist
besser als ein Leben auf dem Land“, heißt es. Nahezu die Hälfte der
äthiopischen Bevölkerung ist von Hunger
und Unterernährung betroffen. „Die letzte große Dürre 2011 konnte das Land nur
dank großer Nahrungsmittelreserven überstehen“, so Belay von der Welthungerhilfe. Hunger ist daher
noch immer ein großes Thema in Äthiopien. „Wenn die Menschen etwas zu essen
haben, sind sie zufrieden“, sagt Belay.
Die Frage was sein könnte, wenn essen allein nicht mehr reicht, wagt
sich Belay nicht zu stellen. Noch ist die Lage ruhig und Äthiopien bekannt für
das friedliche Miteinander seiner Kulturen und Religionen. „Noch“, sagt Belay.
Wo Tesfaye zukünftig mit seiner Mutter leben wird, weiß er nicht. „Ich werde
für meine Mutter sorgen, so wie sie für mich gesorgt hat“, sagt er, „ich bete
dafür jeden Tag.“ Und zur Bestätigung tippt er mit dem Finger auf die Apostel.
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